Stefan Weppelmann: Museen sind Fitnesscenter für die Seele

Bekanntermaßen befindet sich die Kulturwelt und mit ihr viele Museen in einem Schwebezustand aus Schließungen und Wiedereröffnungen. In diesem Zustand werden Ausstellungen mit und ohne Besucher geplant, virtuelle Rundgänge auf Youtube hochgeladen, und es entstehen 3-D-Abbilder der Museen. Gerade in jener merkwürdigen Schwebe trat zum 1. Januar 2021 der Kunsthistoriker Stefan Weppelmann seine neue Stelle als Direktor des Museums der bildenden Künste Leipzig an. Im März konnten die Museen in Leipzig kurzzeitig öffnen, und so nutzten wir die Chance für ein Interview mit ihm.

Kulturfalter: Seit Sie Ihre neue Stelle angetreten haben, ist Ihr Haus die meiste Zeit zu. Das ist sicher kein Dienstbeginn, wie man ihn sich vorstellt. Wie sind Sie mit dieser Situation umgegangen?
Stefan Weppelmann: So ein Wechsel bedeutet neue Kolleginnen und Kollegen, neue Aufgaben, neue Verantwortung und ein neues Umfeld – in diesem Fall Leipzig und die hiesigen Akteur_innen und Netzwerke. Ich habe während der ersten Wochen viel lernen müssen. Die Pandemie ist deshalb in meiner persönlichen Wahrnehmung zwar präsent, aber nicht alles bestimmend. Einerseits habe ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen nach innen geschaut: wir haben einen Teamprozess begonnen, der nach der aktuellen Position unseres Hauses und nach mittelfristigen Zielen fragt, wir sind Reparaturen angegangen, und wir bereiten Ausstellungen und andere Teile unseres Programms vor. Andererseits sind wir mit verschiedenen Projekten auch außerhalb unseres Museums präsent. Meine Kolleginnen und Kollegen hatten etwa die Idee, die Leipziger City Light-Plakatflächen zu nutzen und eine Art „Museum im Stadtraum“ zu veranstalten, auch für den neuen Lockdown haben wir etwas vor.

Wie muss man sich den Alltag aktuell vorstellen. Sind alle Mitarbeiter im Homeoffice, und nur der Hausmeister dreht einsam seine Runden?
Natürlich sind auch bei uns viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Homeoffice – wir sind ja auch im MdbK aktiv bemüht, dem Virus Einhalt zu gebieten. Aber zunächst möchte ich sagen, dass wir seit März auch einige Wochen geöffnet waren. Allein deshalb konnten wir den Betrieb ja nicht abmelden. So haben wir etwa die Andreas Gursky-Ausstellung vorbereitet und Ende März eröffnet. Dann ermöglichen digitale Tools ja trotzdem recht viel. So sitzen wir schon ziemlich viel Zeit im „digitalen Raum“ zusammen, und zugleich ist jeder bei sich, im Büro oder zuhause. Wir haben keinen Hausmeister, sondern ein ganzes Team für Technik & Sicherheit, und dieses hat bei geschlossenem Museum eher mehr zu tun: Reparaturen, die nur ohne Besuchende gemacht werden können, treten konzentrierter auf, Hygienekonzepte müssen umgesetzt werden usw. Viele Dinge sind Routinen und diese laufen ab, ob das Haus offen ist oder nicht. Eines allerdings ist anders, wenn wir geschlossen sind: unsere Sammlungsräume sind verwaist, und es liegt dann Tag für Tag diese Stille in den Räumen.



Das MdbK hat große Sammlungen. Ist jetzt die Zeit für die große Inventur oder um Dinge aufzuarbeiten, die liegen geblieben sind?
Mit unseren Sammlungen arbeiten wir unabhängig von den Auswirkungen der Corona-Krise. Die Erfassung der Objekte, ein Inventurprozess, wenn Sie so wollen, muss ständig nebenherlaufen. Aber Sie haben schon recht, wir führen derzeit eine En-bloc-Erfassung größerer Bestände in der Graphischen Sammlung durch. Wir haben auch begonnen, unsere Arbeitsabläufe als solche in den Blick zu nehmen. Das geht in diesen Zeiten natürlich besser. Auch eine grundsätzliche Umstrukturierung unserer Sammlungsräume, also unserer Dauerpräsentation, beschäftigt uns sehr. Wir haben neue, inklusive Stationen konzipiert, die Kunst zum Hören, Sehen und Berühren vermitteln. Und noch etwas: Wenn Sie größere Skulpturen über die verschiedenen Etagen bewegen wollen, sind zahlreiche technische Schwierigkeiten aufgerufen, mit denen man besser umgehen kann, wenn wir nicht nur am montäglichen Schließtag agieren können.

Bei der Ankündigung des Lockdowns im November wurden Museen in einer Reihe mit Fitnesscentern und Sonnenstudios als Freizeiteinrichtung genannt. Wie haben Sie das empfunden?
Museen sind doch Fitnesscenter und Sonnenstudios für die Seele! Ich habe keinen elitären Kulturbegriff. Im Gegenteil: wenn der Museumsbesuch als Option der Freizeitgestaltung gesehen wird, dann ist das sehr schön! Mit Freizeit verbinde ich nämlich das Lösen von Spannung, Erholung, Erlebnis, Abschalten vom Alltag, unterwegs sein – auch Neues lernen: alles Dinge, die ich gern mit einem Museum leisten würde. Natürlich stiften Museen auf eine besondere Weise Gemeinschaft, indem sie Orte sind, die dazu auffordern, sich zu öffnen, aktiv zu schauen. Wir sehen den ganzen Tag, keine Frage, aber aktives Schauen heißt, sich in dem, was wir sehen, selbst zu begegnen: das passiert nur in der direkten Betrachtung von Kunst, in ihrer Berührung mit dem Blick. Wir liefern Input, der unseren Besucherinnen und Besuchern hilft, der sie aktiviert, sich einzubringen.

Infolge der in der vorherigen Frage genannten Aufreihung entbrannte auch eine Diskussion darüber, ob Museen Bildungsreinrichtungen oder Orte der Unterhaltung sind. Wo ordnen Sie das MdbK ein?
Diese Diskussion ist nicht relevant. Seit den 1970er Jahren wird diese Unterscheidung gern gemacht, je nach Intention des oder der Sprechenden. Dabei wird vergessen, dass man damit jeweils eine gewisse Bevormundung der Besucherinnen und Besucher auslöst. Museen sollten aufhören, für sich die alleinige Deutungshoheit zu beanspruchen und zu sagen: Wir sind wichtig, weil wir auch bilden. Museen sind doch viel mehr: Sie sind Orte der Begegnung – mit anderen Menschen und mit den Ideen anderer Menschen, nämlich mit Kunst. Sie machen sichtbar, was sonst unsichtbar aber für unser Zusammenleben wichtig ist: Demokratie. Nehmen Sie unsere Programme für Menschen mit Einschränkungen, unsere Bemühungen, das Museum in die Stadt zu tragen, in jene Stadtteile, wo das Kulturangebot ausgebaut gehört. Und Museen sollten auch Orte sein, an die man kommt, wenn es einem um Stille und um Innehalten geht. Hat das alles auch mit Bildung zu tun. Natürlich! Das MdbK ist ein Ort, an dem auf vielfältige Weise – unterhaltend und bildend – Bindungen zwischen Kunst und Menschen produziert werden.



In dieser Pandemie entstehen im digitalen Bereich viele neue Dinge – virtuelle Rundgänge oder Führungen, 3D-Bilder der Museen, um nur einiges zu nennen. Wird die Pandemie den Museumsbetrieb nachhaltig verändern?
Sie wird unser Leben insgesamt verändern und natürlich auch die Museen. Dabei sind diese Veränderungen vielseitig. Sie haben den digitalen Raum angesprochen. Er ist in unser aller Bewusstsein getreten, wie eine Art Mechanik, die die Leerstelle besetzt, die wegen der Kontaktbeschränkungen entstanden ist. Wir werden uns auch künftig mit diesem Raum beschäftigen, und das hätten wir auch ohne die Pandemie tun müssen. Kunstwerke gehören ins Digitale gespiegelt, damit sie ortsunabhängig zugänglich sind, mit digitalen Medien können spannende Kontexte für die Erfahrung von Kunst gesetzt werden – all das ist wichtig. Wir werden aber zugleich eine neue Aufmerksamkeit für das originale Kunsterleben sehen. Eine Arbeit des Fotografen Andreas Gursky, im Original messen seine Werke oft mehrere Meter, im Museum zu sehen, ist etwas anderes, als das Betrachten von Reproduktionen. Der Reisebericht am Fernsehen ist nicht das Gleiche, wie die eigene Reise. Der Museumsbesuch erhält eine neue Einzigartigkeit und Wirkmacht.

Wie werden ihre Onlineangebote genutzt? Welche Erfahrungen haben Sie in diesem Bereich gemacht?
Onlineangebote lassen sich nicht generalisierend beurteilen, manches funktioniert wunderbar, anderes nur bedingt: Die Kommunikation über die Sozialen Medien ist enorm wichtig, vor allem, während wir geschlossen sind. Wir erreichen allein über Instagram mehr als 20.000 Follower. Bei anderen Formaten sind wir eher skeptisch: wir haben verschiedene Initiativen, Gespräche oder Führungen gefilmt und etwa über Facebook live gezeigt, da halten sich die Klicks allerdings in Grenzen. Aber dennoch sind solche Aktivitäten für uns wichtig und wir müssen sie ausbauen, denn sie sind perfekt, um einen Dialog mit unserem Publikum zu stimulieren. Ich selbst habe vor wenigen Tagen noch einen Livestream mitgestaltet und war von der regen Teilnahme überrascht.

In einem Museum wird langfristig geplant. Wie hat die Pandemie die Planungen für die nächsten Jahre geändert?
Wir haben die bereits angeschobenen großen Ausstellungen im Kalender bewegt. So eröffnen wir unsere Ausstellung zu Caspar David Friedrich nicht jetzt im Frühjahr, sondern erst im Oktober, in der Hoffnung, dass wir dann nicht zu harte Einschränkungen hinnehmen müssen. Wir haben dann Formate in den Blick genommen, die sich leichter neu planen lassen, z.B. Performances, die keine eigene Architektur oder aufwändigen Leihverkehr erfordern. Ansonsten gebietet die Vorsicht – nicht zuletzt aufgrund der jeweils involvierten Budgets – dass größere Vorhaben nicht vor der zweiten Hälfte 2022 angesetzt sind. Die Menschen werden die Pandemie-Erfahrung ja nicht einfach vergessen, selbst, wenn eine Durchimpfung die Gefahr in den Hintergrund drängt. Und wir werden auch nicht wissen, wie lange wir mit erheblichen Restriktionen zu rechnen haben, die daraus resultieren, dass das Virus hier und dort wieder aufflammen kann. Überhaupt sind größere Projekte, zumal solche, die mit Partnerinstitutionen organisiert werden, alle sehr weit in die Zukunft verschoben.



Hoffen wir mal, dass die dritte Welle im Sommer beendet ist und wir dann wieder ins Museum können. Worauf dürfen sich die Besucher im Mai, Juni oder Juli freuen?
Zunächst einmal auf unsere Dauerausstellung, die wir begonnen haben, neu zu arrangieren. Es gibt Gemälde, die nach ihrer Restaurierung erstmals ausgestellt sind, Skulpturen, die lange im Depot waren und auch sonst viel Neues. Unsere haptischen Stationen, die sich an Menschen mit Einschränkungen richten, gehen an den Start. Wir haben eine Reihe spannender, neuer Formate in unserem Vermittlungsprogramm – auch außerhalb des Museums. Andreas Gurskys Arbeiten nehmen uns mit nach Paris oder Hong Kong, fordern zu Perspektivwechsel auf und zelebrieren dabei zugleich die Schönheit der Welt. Zeitgleich zeigen wir eine berührende Schau mit Fotografien aus Leipzig der Jahre von 1950-1980 – das ist gewissermaßen eine Zeitreise, zurück in ein Leipzig ohne Smartphones und Shopping-Malls. Und ab 19. Mai kommt dann eine Reise der ganz besonderen Art: eine Ausstellung zu Martin Kippenbergers „Metro Net“. Kippenberger hat reale Metro-Stationen an Orten errichtet, die gar keine Untergrundbahn besitzen – eine dieser Stationen befindet sich beispielsweise auf dem Leipziger Messegelände, eine andere auf der griechischen Insel Syros, oder eine weitere im kanadischen Dawson City. Hier geht es also um das Sich-Bewegen, das Reisen in der Imagination.

Kulturfalter: Worauf freuen Sie sich persönlich besonders, wenn die Pandemie vorbei ist?
Auf Familienbesuche und das Wiedersehen mit Freunden. Ich habe zum Beispiel Familie in Frankreich. Wir haben uns schon so lange nicht mehr live gesehen, woran die Pandemie Schuld ist. Und auf ein Museum voller Besucherinnen und Besucher, die nicht einander aus dem Weg gehen müssen, sondern sich hier begegnen.

Herr Weppelmann, vielen Dank für das Interview. Mehr zum MdbK finden Sie in unserem Kalender und auf der Internetseite des Museums.